Zensur im Internet |
Auch wenn einige Geladene kurzfristig abgesagt hatten - Prominenz war genug vorhanden... Auf dem Podium saßen Andy Müller-Maguhn (Pressesprecher des CCC), Rop Gonggrijp (XS4ALL), Michael Schneider (ICTF) und Wau Holland (Alterspräsident des CCC); aus dem Publikum kamen noch so bekannte Namen wie padeluun, Lutz Donnerhacke, MdB Jörg Tauss und Freiherr von Gravenreuth dazu. Das reichte, um eine lebhafte Debatte über Stand, Notwendigkeit, Möglichkeiten und Visionen von Zensur im Netz zustandekommen zu lassen.
Andy Müller-Maguhn eröffnete, indem er Michael Schneider zur Darstellung der Ereignisse dieses Sommers aufforderte, die sich um die Behinderungen bei der Bereitstellung der radikal-Ausgabe Nr. 154 auf dem niederländischen Provider XS4ALL abspielten.
Zur Erläuterung die Darstellung von Michael Schneider in Kurzfassung: Auf dem niederländischen Server XS4ALL liegt die Ausgabe 154 der Zeitschrift radikal, mit u.a. einer Anleitung, wie man Züge zum Entgleisen bringen kann. Das kann nach deutschem, nicht aber nach niederländischem Gesetz als "Aufruf zu einer Straftat" betrachtet werden und somit selbst strafrechtlich relevant sein. Die Bundesanwaltschaft (BAW) forderte daraufhin die deutsche Arbeitsgemeinschaft von Internetprovidern ICTF auf, den Zugriff auf XS4ALL zu sperren, was die als unmöglich ablehnte. Die Anwaltschaft konkretisierte daraufhin ihre Forderung (bestimmmte Adressen sollten gesperrt werden). Die ICTF gab nach, um der Verhaftung von verantwortlichen Personen der Provider vorzubeugen, und sperrte bei der Host-ID von XS4ALL den Port 80, womit die Kommunikation mit XS4ALL von diesen Stellen aus unmöglich wurde. Taktik der BAW schien es in dieser Sache zu sein, ein Exempel zu statuieren, wie aus Äußerungen gegenüber der ICTF zu erkennen war. Die Möglichkeit von Mirror-Sites war den Strafvervolgern durchaus bekannt.
Die Diskussion begann mit dem Statement von Rop, er fühle sich als niederländischer Provider nicht verantwortlich für die Inhalte, die einer seiner Kunden bereitstelle und die in Deutschland strafbar seien. Daß XS4ALL radikal nicht sperrte, verstehe er als Frage des Prinzips.
Michael Schneider warnte vor den nächsten Aktionen der BAW, die nach den Entscheidungen über Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) und den Mediendienste-Staatsvertrag bald zu erwarten seien und sicherlich sehr "unangenehm" würden. Deshalb sei es für ihn verständlich, daß EuNet von den Drohungen der BAW eingeschüchtert gewesen sei und XS4ALL komplett (anstatt nur teilweise) gesperrt hatte. Rop Gonggrijp zeigte sich jedoch immer noch empört über diese Aktion, die einigen Geschäftskunden von XS4ALL und damit dem Ansehen von XS4ALL geschadet hat. Erst nach Druck auf EuNet (Europa) hat die deutsche Geschäftsführung die Sperre aufgehoben.
Wau Holland bekräftigte den Vergleich von Providern mit einem Vermieter mit dem Hinweis darauf, daß Ignaz Bubis sich offenbar ebenso nicht für die Aktivitäten seines Mieters Scientology-Church interessiere. Andererseits sei die Zugänglichkeit der radikal über das WWW natürlich breiter, als wenn die betreffende Ausgabe als komprimierte Datei per e-mail verschickt werde, was gewisse Vorkenntnisse für die Lektüre erfordert. Er verstehe also das Bestreben der BAW, die deutschen Provider einzuschüchtern; was ihm unverständlich sei, sei der Mangel an Vertrauen der Provider in die Netz-Gemeinschaft. Michael Schneider meinte dazu, dieser Verzicht sei angesichts der "unangenehmen" möglichen Folgen (Beschlagnahmungen etc.) von seiten der BAW durchaus nicht ganz freiwillig. Andy Müller-Maguhn bat, doch nicht ein Verfahren mit einer Verurteilung gleichzusetzen. Eine Studie von Ulf Sieber habe ergeben, daß zum betreffenden Zeitpunkt von den deutschen Providern keine Straftat begangen worden sei. Freiherr von Gravenreuth warnte jedoch aus eigenen Erfahrungen davor, die Folgen einer Beschlagnahmung zu unterschätzen: angesichts der Auslastung der ermittelnden Organe sei mit einer Rückgabe nicht vor zwei Jahren zu rechnen. Hier griff zum ersten Mal eine Stimme aus dem Publikum ein: padeluun erzählte von gegenteiligen Erfahrungen, die er anläßlich einer Hausdurchsuchung gemacht habe: Indem er die Kommunikation gesucht habe, konnte er die Beamten überzeugen, ihren vorgesetzten Richter telefonisch nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu fragen; die Beschlagnahme konnte so abgewendet werden. Trotzdem sei, so Michael Schneider nach einem Telefonat mit der BAW, mit auch kurzfristigen Maßnahmen zu rechnen gegen XS4ALL-Vertreter, die sich in Deutschland aufhalten.
Auf Nachfrage aus dem Publikum erklärte Michael Schneider, es sei realitätsfern, online Straftaten zuzulassen, die in der Realität verfolgt werden. Die Gegenmaßnahmen, die die Netiquette bisher vorgebe, halte er allerdings auch nicht für rechtskonform. Hier sei Kreativität gefragt. An dieser Stelle forderte Andy Müller-Maguhn Kommunikation statt Mailbombing. Die große Frage bei Straftaten, die in einem Land rechtswidrig, im anderen legal seien, sei doch: Soll die Vereinigungs- oder die Schnittmenge der von den verschiedenen Ländern verbotenen Taten international verfolgt werden? Und unter Androhung welchen Strafmaßes?
Auf die Frage von Lutz Donnerhacke aus dem Publikum nach der klaren Abgrenzung von Straftat und Verdacht auf Straftat antwortete er, als Jurist brauche er nicht erst das Urteil eines Richters abzuwarten, sondern könne auch vor der Urteilssprechung auf Straftaten reagieren. Im übrigen stünden der BAW auch ohne Präzedenzurteile "unangenehme" Mittel zur Verfügung. Die "Freisprechung" (Lutz Donnerhacke) von aol/Deutschland wegen der Weitergabe von Kinderpornographie sei nicht als Präzednzfall für WWW-Inhalte anzusehen, da es in diesem Falle um Chat-Dienste, d.h. um synchrone Kommunikation gegangen sei, bei asynchroner Kommnunikation liege die Rechtslage anders. Andy Müller-Maguhn verwehrte sich gegen Wau Hollands Ausdruck der "destruktiven Informationen": Er wolle lieber den Dialog, die offene Kommunikation. Straftaten würden nicht ausschließlich wegen eines Aufrufs oder einer Anleiim Netz begangen, sondern weil die Täter im Kopf" dazu bereit seien.
Angesichts der sog. "Auschwitz-Lüge", die Straftat sei, der radikal, deren Ausgabe 154 verboten sei, des Spiels Castle Wolkenstein, das Nazi-Symbole verwende, und der Nitzkor, die sich als jüdische Vereinigung zum Ziel gesetzt habe, die Greueltaten der Nazis im öffentlichen Gedächtnis zu erhalten und dabei selbst Links auf die WWW-Seiten des Neo-Nazis Zündel setzt - angesichts dieser völlig verschiedenen Fakten, der unterschiedlichen Stellungnahmen fragte Christine Wittig nach Michael Schneiders positiver Zukunftsvision, sei sie auch noch so unrealistisch. Michael Schneider dazu: Hier werden letztlich nur alte Probleme auf einer neuen Ebene behandelt. Man solle lieber realistisch nach den Urhebern suchen; wenn diese im Ausland blieben, müsse eben der Staat politisch Druck auf dieses Land ausüben und mit Sanktionen drohen.
Zum Schlußwort der Debatte wurde Rop Gonggrijps Statement erklärt: Er wie viele andere NetzteilnehmerInnnen habe Teil an vielen verschiedenen Kulturen und Gemeinschaften, die sich nicht mehr über staatliche Grenzen definieren lassen; Gemeinschaften, die zukünftig nur Bestand haben, wenn sie auch mit unliebsamen Informationen umgehen können.
Links zum Thema
http://www.uni-hildesheim.de/~srod0038/zensur/index.html
http://www.duesseldorf.netsurf.de/~vkoenig/faqzensu.htm
http://141.13.2.8/~ba941932/zensur.html